Kurzgeschichten



Es ist Heilig Abend



Den ganzen Dezember schneit es. Der kalte Nordwind fegt über die Schneedecke der Felder und rüttelt an den Markisen der Häuser. Gegen Nachmittag ist der Himmel schon dunkel und die Luft so eisig, dass einen der Atem gefriert. Die Sterne hängen über den Dächern der Siedlung und erleuchten das Dunkel des Abends. Auf der Landstraße, die ins Dorf führt, bin ich schon ewig nicht mehr zu Fuß unterwegs gewesen und ich muss aufpassen, dass ich nicht auf der festgefahrenen Spur ausrutsche.

Neben der Straße hat der Wind Schneewehen aufgebaut, die von Holzzäunen gehalten werden. Im Geäst der dunklen, kahlen Bäume, die den Straßenrand säumen, sitzen ein paar Krähen. Hinter mir leuchten Scheinwerfer auf und ich trete in das hohe, mit Schnee verkrustete Gras, um das Auto vorbei zu lassen. Von Weiten sehe ich die Spitze der alten, gotischen Dorfkirche. Sie ragt weit über die schneebedeckten Dächer hinaus.

Es ist Heilig-Abend und bitterkalt. Schon lange hatten wir nicht mehr so eine eisige Kälte zum Weihnachtsfest. Mich umgibt eine himmlische Ruhe, nur das leise Knirschen unter meinen Schuhen ist zu hören. Der Schnee ist fest und von Eiskristallen durchzogen.

Am Feldrand sind die Fährten eines Fuchses zu erkennen. Etwas weiter, zwei kleine Pfotenabdrücke dicht beisammen, darüber die Abdrücke der Hinterläufe. Es sind Kaninchen, die der Hunger bis vor die Häuser der neuen Siedlung treibt.

Der kalte Wind peitscht über die flachen Felder und pfeift durch den dicken Mantelstoff. Ich ziehe den Schal noch weiter über das Kinn und die Wollmütze noch tiefer ins Gesicht hinein. Es ist nicht gerade die Zeit, die ich liebe. Die Tage sind düster und kurz. Die einzige angenehme Unterbrechung in dieser trüben Zeit sind die gemütlichen Teestunden bei Freunden und nicht zu vergessen der hervorragende Chrisstollen von Bäcker Gander, der gern zum Tee gereicht wird. Der örtliche Bäckermeister hat ein uraltes Stollenrezept, nach dem schon Generationen gebacken haben. Eine Gaumenfreude für jeden Feinschmecker. Mandelstollen mit Marzipan, Rosinen und Sukkade. Eine köstliche Leckerei in der Weihnachtszeit.

Heute ist es besonders dunkel und die Menschen genießen die Wärme und Behaglichkeit in ihren Häusern. Der Schnee schluckt die Geräusche der vorbei rollenden Autos. Die Roll-Läden vor den Fenstern sind heruntergezogen. Vereinzelt kann man in die Fenster der Häuser blicken, hinter denen sich das Familienleben abspielt. Durch die Vorhänge sieht man die brennenden Kerzen am Christbaum und Großfamilien, die gemeinsam am Wohnzimmertisch, vor ihrer Weihnachtsgans sitzen.

Seit dem Ableben meiner Frau ignoriere ich die Feiertage, halte aber noch immer am Gottesdienst des Heilig-Abend fest.

Ich bin überzeugter Christ. Schon mein Großvater war im Kirchenvorstand und hat fest daran geglaubt, dass es die Berufung eines Mannes sei, seinen Mitmenschen zu dienen.

Die wenigen Blätter der Hecken rascheln im Wind und die mondhellen Wolken rasen am Himmel vorüber. Ein schwarzer Kater miaut vor einer Haustür. Er fühlt sich ausgeschlossen und möchte hinein. Der Buchsbaum vor dem Haus teilt sich unter der schweren Schneelast. Als ich den Kirchhof erreiche, habe ich wieder dasselbe komische Kribbeln in mir, das ich schon als junger Bursche hatte.

Aus den großen, bleiverglasten Fenstern der Kirche fällt das Licht auf die Eiskristalle im Schnee und lässt sie in allen Farben funkeln. Die alte, schwere Holztür knarrt noch immer beim Öffnen und gewährt mir Einblick in das hell erleuchtete Kirchenschiff.

Neben dem Altar steht ein riesiger Weihnachtsbaum. Ich suche mir einen Platz, von dem ich den Baum in seiner ganzen Pracht sehen kann. Langsam weicht die Kälte aus meinem Körper und ein wenig Wohlbehagen macht sich breit. Die brennenden Wachskerzen am Baum versetzen mich in Weihnachtsstimmung. Alles ist still und lauscht den Worten des Pfarrers, der den Gottesdienst mit einem Gebet beginnt.

Seit vier Jahren gehe ich allein in die Kirche, sie ist für mich ein Ort der Zuflucht und Geborgenheit geworden. Die sonntäglichen Gottesdienste geben mir Kraft und haben mir in den vergangenen Jahren über den schweren Verlust hinweg geholfen. Ich habe immer geglaubt, ohne Schmerzen durchs Leben zu kommen, doch sie nehmen dich ohne Vorwarnung in Beschlag und genau dann, wenn man am wenigsten damit rechnet. Da kommt mir eine gern zitierte Weisheit eines Freundes in den Sinn: „Jedes Licht ein Schicksal!“ Wie wahr!

Die vertrauten Weihnachtslieder wecken Erinnerungen in mir und ich spüre wie mir ein paar dicke Tränen über die Wange kullern. Jede Kleinigkeit, sei sie auch noch so unwichtig, kommt mir plötzlich wieder in den Sinn. Ich glaube, dass jeder der gestorben ist, auf irgendeine Weise weiter lebt.

Als das dumpfe Läuten der Glocken den Gottesdienst beendet, bleibe ich noch für einen Augenblick sitzen und genieße die vertraute Atmosphäre, in der ich mich wohl fühle. Unter dem großen Baum, der noch größer und schöner ist als im letzten Jahr, stehen Krippenfiguren aus Holz.

Der Pfarrer schreitet in festlicher Robe zum Ausgang und verabschiedet seine Schäfchen. Als die Orgel verstummt, erhebe ich mich von meinem Platz und bilde das Schlusslicht in der Reihe der Gläubigen. Nachdem er mir die Hand geschüttelt hat, trete ich hinaus in die beißend, kalte Dezemberluft. Es ist gnadenlos kalt! Ich schaue gen Himmel in die leuchtenden Sternenbilder. Irgendwo dort oben ist sie jetzt auch.

Eine Geschichte aus meinem Weihnachtsbuch

Aquarell: GNW

Gelesen: 57   
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AUTOR:

Liebe Freunde der Poesie,
Schreiben, Malen und Fotografieren sind drei meiner vielen Hobbys. In diesem Forum könnt ihr über 800 Gedichte von mir lesen. Ich schreibe über Geschehnisse im Alltag, über Urlaubserinnerungen und hoffe mit Denkanstößen aufrütteln zu können. Wer die Geschichte von Eduard verfolgen möchte, ist hier genau richtig. Inzwischen umfasst die Geschichte über 40 Teile.
Wenn ihr etwas tiefer in meine Welt eintauchen möchtet, besucht mich auf meiner Homepage.

Mit lieben Grüßen, Gudrun Nagel-Wiemer


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3 KOMMENTARE



25. Dezember 2023 @ 16:38

Ralph, danke, dass du dir die Zeit zum Lesen genommen hast. LG Gudrun


24. Dezember 2023 @ 09:54

... schöne innere und äußere Stimmung eingefangen , an irgendeiner Stelle findet sich jeder Leser , ich mich im wunderschönen ersten Teil , so sah meine Umwelt einst aus , bloß beobachtete ich Rehe . Danke, für Augenblicke war ich wieder lesend sehr glücklich-.
Grete


24. Dezember 2023 @ 10:04

Danke, für deine schönen Worte, Grete. Diese Geschichte und zwei Gedichte von mir wurden in der gestrigen Zeitung veröffentlicht. Scheinbar hat dem Redakeut meine Weihnachtsgeschichte auch gefallen. Er wollte nur Gedichte für die Leser und hat eine ganze Seite für diese Geschichte frei gehalten. LG Gudrun



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