Professor Seidemann kam jeden Freitag zur Bank. Er hielt mir seinen Scheck entgegen und manchmal hatte er auch das Sparbuch dabei, um es etwas aufzustocken. Wenn Zeit zu einem Gespräch blieb, unterhielten wir uns über Bücher; denn er war sehr belesen und ich eine Leseratte. Meine damaligen Favoriten waren Eugen Roth und Wilhelm Busch. Irgendwann zeigte er mir ein altes Buch mit Zeichnungen von Letzterem. Ich war überrascht; denn ich wusste gar nicht, dass Busch auch ein ausgezeichneter Maler war.
Mit der Zeit freute ich mich auf die Freitage und den etwas schrulligen alten Herrn. Meine Kollegen schmunzelten und neckten mich wegen des Verehrers, aber ich nahm es mit Humor. Ich mochte den bärtigen, klugen Mann mit dem abgetragenen Mantel und dem zu großen Hut.
An einem Freitag war es auch, als er mir die Karte mit einem Gedicht, das er geschrieben hatte, lautstark vorlas. Es war eine Einladung zum Kaffee bei sich zuhause. Kunden, die diese Szene miterlebten, blickten verwundert von ihm zu mir und applaudierten kräftig. Ich nahm die Einladung an mit der Bitte, meinen Kollegen, Herrn Winter mitbringen zu dürfen. Er schmunzelte zufrieden und zog den Hut.
Samstag 15 Uhr - Mitte Januar
Wir hatten geläutet, aber es bewegte sich gar nichts. Für den Fall, dass der Professor schwerhörig war, läuteten wir Sturm. Fast schon am Gehen, hörten wir schlürfende Schritte, die sich der Tür näherten. Er musste wohl geschlafen haben; denn sein spärlicher Haarkranz, rötlich schimmernd wie der Bart, stand aufrecht vom Kopf. Er trug ein weißes Hemd mit kleinem, leicht abgewetztem Kragen, eine ausgebeulte Cordhose, die von Hosenträgern gehalten wurde und karierte Hausschlappen.
Freudestrahlend ging er voraus in die gute Stube. Der Kaffeetisch war liebevoll gedeckt mit altem Porzellan auf einer wunderschönen Spitzendecke; dazu passende Stoffservietten. Als er sich dann mit herrlich duftendem Kaffee näherte, bot ich ihm an, einzugießen. Während ich die Kaffeekanne senkte ( ein Schaumgummistopper befand sich unterhalb der Tülle und ein Sieb lag auf dem Tisch ), sah ich, dass in den Tassen braune Fichtennadeln lagen. Der Adventskranz hing vergessen und verwelkt noch über dem Tisch und ließ die trockenen Nadeln bei jedem Luftzug rieseln, als wären es Jahre ...während die Zeit weiter lief. Mein Kollege verwickelte den alten Mann in ein Gespräch, um mir die Gelegenheit zu geben, die Nadeln vor dem Einschenken auszukippen. Die Torte war frisch, das konnte man an dem Papier, das der Konditor dazwischen gelegt hatte, sehen. Beim Essen kam der Genuss.
Der Professor nahm uns mit in seine Erinnerungen und zeigte uns einen Stapel Bücher, die mit einem Gürtel zusammengebunden waren, damit die Geschichten nicht verloren gingen. Der Nachmittag verlief kurzweilig und war uns eine Bereicherung.
Als wir uns verabschieden wollten, bat er mich, die Augen zu schließen. Etwas verdutzt blieb ich stehen und mein Kollege konnte sich ein leichtes Prusten nicht verkneifen. Ich spürte etwas kaltes an meinem Hals. Als ich in den Spiegel sah, den mir der alte Mann mit erwartungsvollem Blick reichte, bemerkte ich den antiken, wunderschönen Silberschmuck. Er verriet mir nicht, wer ihn einst getragen hatte und warum er nun mir gehören sollte.
Er lächelte nur aus verschmitzten Augen ....
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(C) Ingrid Bezold
