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Afag Masud



  • Afag Masud – Schriftstellerin, Dramatikerin, Verdiente Künstlerin und Aktivmitglied der Peter-Akademie der Wissenschaften und Künste, Vorstandsvorsitzende des Übersetzungszentrums der Republik Aserbaidschan, Vorstandsvorsitzenderin des Staatlichen Übersetzungszentrums Aserbaidschan, Chefredakteurin der Weltliteraturzeitschrift "Chasar".

Der Tod des Kaninchens

25 Dezember 2014

... Eines von zwei Kaninchen lag im Sterben. Seine Augen waren farblos und die Pupillen tief getrübt und grau. Es hatte seinen blassen Mund auf den Boden gelengt und atmete schwer ein und aus.

Das Andere saß hinter dem Gebüsch, und nur seine Ohren waren zu sehen.  Das Zittern der Ohren gab zu verstehen, dass es wie immer mit abwesenden Augen irgendwohin starrte und etwas mümmelte.

Die Frau setzte sich auf die Fersen und näherte den erschöpften Kopf des Kaninchens dem kleinen Wasserbecken, damit es etwas trinke. Es trank gierig, verschluckte sich, sein Atem ging plötzlich verloren und die Augen blieben wie gläserne Knöpfe bewegungslos.

 

„Was sollen wir jetzt tun?“ fragte ihr Mann und starrte sie mit einem bedauerenden Gesicht so an, als ob er dran schuld wäre, dass es sterbe.

Issa Kischi1, ihr Nachbar, steckte den Rest der Zigarette in den Sand und trat sie mit dem Fuß.

„Das Männchen und das Weibchen dürfen nicht im selben Käfig gehalten werden. Eines von ihnen stirbt gewöhnlich...“ sagte er.

„Welches?“

„Gewöhnlich das Männchen“

„Warum ausgerechnet das Männchen?“

 Ihr Mann verzog sein Gesicht wegen dieser unpassenden Frage. Issa Kischi steckte die Hände in die Taschen seiner von der Sonne verblassten Hose und ging zum Tor, wo er stehenblieb und sagte:

„Tauben sind besser zu halten.“ Und er ging fort.

Nachdem Issa Kischi weggegangen war, berührte ihr Mann mit zwei Fingern die weisse Kralle des Tierchens heftig, vielleicht um zu prüfen, ob es wirklich gestorben war. Dann erhob er sich, legte seine Hände auf die Taille und sagte mit einer heiseren Stimme:

„Es stirbt bald!“

Das Kaninchen kämpfte in Atemnot gegen den Tod, seine Pupillen waren so gross, als ob sie eben platzen würden, und sein kleiner warmer Körper zitterte leise.

So kämpfte es gegen den Tod, bis es dunkel wurde und es endlich starb.

Ihr Mann grub in einer entfernten Ecke des Gartens ein Erdloch und begrub es dort.

... Die ganze Nacht hindurch sah sie im Traum, wie das Kaninchen gegen den Tod kämpfte. Das Kaninchen, das jetzt im Todeskampf war, war viel grösser und weisser als das Verstorbene und wurde plötzlich lebendig, bäumte sich auf, legte seine Krallen auf ihre Schultern, machte den Mund weit auf, so dass die Speiseröhre zu sehen war und gähnte. Und es gähnte so, als ob es sie über diese Mundgruft schlucken wollte...

Beim Frühstück kam das andere Kaninchen und setzte sich dem Glasbalkon gegenüber. Es kaute wieder etwas langsam und sah sie so scheu an, als ob es ihrem Gespräch zuhörte.

„Was meinst du, wer von ihnen starb: das Männchen oder das Weibchen?“ fragte sie.

Blinzelnd sah er das Kaninchen an und antwortete:

„Spielt das eine Rolle?

„Dies hier ist einem Männchen ähnlich.“

Der Mann verzog sein Gesicht, als wenn die Sonne seine Augen blendeten.

„Wie kommst du darauf?“

„Seine Bärtchen...“

„Was haben seine Barthaare damit zu tun? Als ob die Weibchen keine Barthaare haben...“

Sie beschmierte die dünne Brotscheibe mit Butter und schaute auf das Kaninchen:

„Das hier wird sich langweilen... Vielleicht kaufst noch eins?“

„Was für eins?“

„Eins wie dieses hier“

„Wir wissen doch nicht, ob dies hier Männchen oder Weibchen ist...“

Das Frühstück blieb auf dem Tisch stehen, und sie versuchten vergebens das Kaninchen in den Weintraubengebüschen zu fangen...

Und später, als er das Auto schnell duch die schmalen Gassen der Siedlung Meredakan fuhr, murmelte er:

„Merkwürdig... Sehr merkwürdig...“

„Was ist merkwürdig?“

„Dass das Kaninchen starb. Ich höre zum erstenmal, dass die Männchen und Weibchen von Kaninchen nicht im selben Käfig gehalten werden sollen,” sagte ihr Mann und starrte vor sich hin, aber nicht in die Ferne.

 ... Seit gestern hatte sich das Gesicht ihres Mannes verändert, unter den Augen hatten sich schwarze Flecken gebildet, die Gesichtshaut war blass.

Am Abend, sobald die Kinder das Landhaus erreichten, begannen sie zu weinen und gaben ihm keine Ruhe, bis der Vater ihnen endlich erzählte, wo das Kaninchen beerdigt war. Sie schmückten das Grab mit kleinen Steinchen und Weintraubenblättern.

Beim Abendessen herrschte getrübte Stimmung. Die Kinder schauten einander mit blassen Gesichtern an und wühlten lautlos mit langen Gabeln in den Nudeln so lange, bis das Essen lau wurde.

Die Frau aß die Fleischstücke schnell, beinahe unzerkaut, und bei jedem Hinunterschlucken der grossen Bissen wurden ihr dunkles Gesicht und die Augenbrauen noch dunkler...

Ihr Mann begann wieder vor sich hinzustarren und zwar auch dieses Mal nicht in die Ferne, als ob das Kaninchen in der Nähe noch mit dem Tod kämpfte.

„Ich habe dich doch gewarnt, dass diese Erdbeeren nicht mehr so frisch aussahen,“ sagte sie.

Der Mann erschrack: „ Welche Erdeeren meinst du?

„Mit denen du die Kaninchen gefüttert hast“

„Ich habe doch selbst was davon gegessen...“

„Aber du hast nicht die gleiche Körperfülle wie die...“

„Dem Gift ist völlig egal, ob der Körper gross oder klein ist.“

„Doch...“

„Nicht!“ Ihr Mann schrie plötzlich und schlug mit der Hand so heftig auf den Tisch, dass die Teller darauf tänzelnd klirrten. „ Issa Kischi hat doch dir glasklar erklärt, dass man das Männchen nicht mit dem Weibchen zusammen halten darf. Eines von ihnen stirbt immer...“

„Aber welches?“ 

Der Mann antwortete auf ihre Frage nicht und schob seinen Teller nervös zurück:

„Das ist wirklich unerwartet“, sagte er. „Wäre ich gestorben, hättest du vielleicht nicht so viel getrauert“. Er verfluchte das Kaninchen und ging mit hastigen Schritten in einen fernen Teil des Gartens und kam bis zur späten Nacht nicht zurück.

… Das andere Kaninchen sah ihnen von diesem oder jenem Gebüsch zu, und seine rosigen Ohren zitterten dabei.

In der späten Nacht erwachten sie vom Schrei der jüngsten Tochter, eilten sofort hin und schalteten das Licht an.

Das Kind saß auf seinem Bett und rieb seine schläfrigen Augen und weinte.

„Was ist los? Warum weinst du?

Das Kind anwortete nicht, zugleich hörte es nicht auf zu weinen.

„Tut dir etwas weh?“

Weinend schüttelte das Mädchen den Kopf.

„Vielleicht hast du Durst?“ 

Das Mädchen weinte weiter und schüttelte wieder den Kopf.

„Vielleicht musst du aufs Klo?

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

„Vielleicht ist es dir zu heiß?“

„Nei..n... “ 

„Und warum weinst du?“

Weinend schüttelte sie wieder den Kopf.

Die Augen des Mannes waren rot vor Schlaflosigkeit und er schrie sie nevös an:

„Mensch, was willst du denn?“

Das Kind sprang erschrocken auf und sagte:

„Es kra..tzt... mich...“

...Der nächste Tag war ein Feiertag, und das Wetter wirkte traurig. Nach dem Tod des Kaninchens schien das Grün im Garten verblasst und ergraut. Das andere Kaninchen schaute verzweifelt und verwaist aus dem vergilbten Gras. 

Im Laufe einer vollen Woche hatte sich ein grosser Haufen von schmutzigen Kleidern in einer Hofecke gebildet, der schonungslos auf die Frau wartete. Sie sahen so farblos und zerdrückt aus, dass sie beinahe verrückt wurde, als sie daran dachte, dass sie diese Kleider vor ein Paar Tagen angehabt hatte...

...Der Mann lockerte in der entfernten Ecke des Gartens die getrocknete Erde unter den Bäumen mit nervösen Bewegungen, hielt er plötzlich inne, steckte den Spaten wie ein Messer in die Erde und legte die Hände auf die Taile. Er starrte in den Himmel und schien die Nase voll von dieser Welt zu haben.

Später saß er schon auf dem Sand und hatte sein Hemd um den Kopf gebunden.

„Vielleicht bereitest du zu Mittag Küfte2 zu?“ sagte er, ohne sich gerührt oder an sie gewandt zu haben. Aber da im Garten eine tiefe Stille herrschte, klang seine Stimme wie aus der Nähe.

„Lieber hättest du im Schatten gesessen, statt das Hemd um den Kopf zu binden,“sagte sie.

„So ist es mir lieber“

„Du bleibst dann unter den Sonnenstrahlen...“

Da die Ärmel des Hemdes sein Gesicht umhüllt hatten, konnte sie es nicht genau sehen.

„Das ist ja prima,“ sagte er.

„Was ist prima?“

„Alles...“

Eine Weile herrschte Stille, und nur die Stimme des Radios von Issa Kischi war zu hören. Es war eine Mugham3 – Sendung  

„Ich hasse drei Dinge in dieser Welt: Hitze, Mugham und Küfte“, erwiederte sie.

„Das ist ja auch prima“, kam es vom Hemd.

Sie kam dem Mann zu und setzte sich ihm gegenüber, aber sein Gesicht war sowieso nicht zu sehen. Sie hob die Ärmel des Hemdes hoch und sagte:

„Zumindest solltest du einen Igel finden...“

„Einen Igel? Wozu?“

„Damit sich das Kaninchen nicht langweilt“.

Ihr Mann stand auf und schüttelte seinen Hosen:

„Was soll ich noch finden? Brauchst noch eine Bauchtänzerin?“

Da ihre Gedanken zerstreut waren, konnte sie den Hohn in seiner Stimme nicht spüren.

„Wozu brauchen wir die Bauchtänzerin?“

„Damit sie für das Kaninchen tanzt“.

 ***

Die Fleischsoße war versalzen und dementsprechend giftbitter. Der Mann führte den Löffel in den Mund und sagte höflich lächelnd:

„Versalzen…“

Die Kinder aßen überhaupt keine Fleischsoße , sie kochten sich Spiegeleier, „besprizten“ dabei den Fussboden der Küche mit schwimmenden Butter, stritten miteinander, und das alles endete mit dem Umkippen der Pfanne.

Die Stimme des Mannes kam aus dem Schlafzimmer:

„Was essen wir zu Abend?“ 

Wie gewöhnlich gingen sie zum Abendessen ins Restaurant nicht weit von dem Landhaus. Der Tisch war besonders feierlich gedeckt. Und wie gewöhnlich setzte sie sich ihrem Mann gegenüber.

„Möchtest du Kaviar?“ fragte der Mann.

„Nein“.

„Vielleicht Bohnen?“

Sie zuckte mit den Schultern

Der Mann legte verärgert den Teller mit Bohnen zwischen die dicht aneinander liegenden Vorspeisen. Die älteste Tochter stieß unabsichtlich das Glas mit Limonade um und die Tischdecke wurde blau von der Flüssigkeit. Der Mann sah sie so schief an, dass sie sich auf ihre Lippen biss und unter dem Vorwand, sich zu waschen, hinausging.

„Warum hast du sie so schief angesehen? Sie machte es doch nicht mit Absicht.“

Der Mann aß weiter an seinem Salat mit gesenktem Kopf und schien sie nicht gehört zu haben. Dann kam das Mädchen zurück und eine Weile widmeten sie sich dem Essen von Vorspeisen. Plötzlich hörte der Mann auf zu essen, starrte mit Enttäuschung zu ihrem leeren Teller zu und fragte:

„Warum isst du nicht?“

„Ich esse doch...“

„Was ißt du?“

„Fisch...“

„Fisch? Hast du kein Mitleid mit ihm?“

Sie schaute in die nur im Laufe eines Tages so eingefallenen Augen und das verengte Gesicht ihres Mannes und sagte:

„Was willst du von mir?“ Sie fühlte dabei, dass ihre Stimme zitterte.

Der Mann zuckte nervös mit den Schultern:

„Ich? Nichts... Aber du willst etwas... Hätte man dich nicht getadelt, so würdest du vielleicht vierzig Tage und Nächte um das Kaninchen trauern und weinen...“

Sie fühlte, als ihr Mann sprach, dass ihr Tränen über die Wangen auf die Brust tropften.

Wie sie weinte, verdunkelte sich der Himmel, und diese Dunkelheit bedeckte die Pupillen des Mannes. Und wie er sie weinen sah, wurden seine Pupillen noch grösser und dunkler und diese grosse dunkle Pupillen richtete er auf sie:

„Vielleich gestehst du, dass du das Kaninchen beweinst?“ sagte er.

Sie schüttelte den Kopf: „Nein!“

„Dann sag mal, warum du weinst? Vielleicht finden wir einen Igel, damit du dich nicht langweilst?!“

Die Frau strengte sich an, aber trotzdem konnte sie die Tränen nicht zurückhalten.

„Warum schweigst du? Sprich doch… Sag mal…“

„Was soll ich sagen?“

„ Sag, dass du nicht weiterleben kannst, dich langweilst, verfaulst, stirbst, alles ekelt dich, willst mich gar nicht sehen, die Kinder stören dich, sie sind Hindernisse auf deinem Lebensweg…“ Ihr Mann sprach ruhig wie ein Arzt, regelmässig, ohne Stottern, als ob er diese Worte tagelang geübt hatte.

„Lass mich in Ruhe, ich habe keine Lust zu sprechen.“

„Natürlich hast du keine Lust… Wir sind doch nicht würdig, die Ehre zu haben, Eure Worte zu hören…“

„ Ich will schlafen“, das sagte die jüngste Tochter und schaute beide listig an.

 

…Sie saß bis in die späte Nacht im Glasbalkon und schaute auf die dunklen Bäume und den sternfreien Himmel und hörte den Regentropfen zu.

Sie wollte nicht schlafen. Es regnete so traurig, dass sie sich an eine bekannte traurige Melodie erinnerte. Leise summte sie diese Melodie und spürte, dass ihr Herz leise zu zittern begann. Sie legte den Kopf auf die Arme und weinte.

Vom Zimmer kam die schuldvolle Stimme des Mannes:

„Komm, leg dich hin, du erkältest dich… Es regnet doch…“

Endlich kam auch der Mann in den Glasbalkon, setzte sich neben sie, lehnte seinen Kopf an ihre Schulter, als ob sie ihm Leid tat.

„ Warum schläfst du nicht?“ fragte er.

„…….“

„Ist es dir nicht kalt?“

„Nein.“

„Vielleicht koche ich Kaffe? Trinken wir zusammen…“

„Nein“

„Vielleicht mache ich Licht?“

„Nein“.

„Was willst du denn, Mensch?!“ schrie der Mann mit einer schneidenden Stimme.

„Einen Igel“, sagte sie und wandte ihr Gesicht ab, damit der Mann ihre Tränen nicht sehen konnte…

 

Kischi1 – wörtlich: Mann. Anrede oder Bezeichnung für einen fünfzig- bis sechzigjährigen Mannes

Küfte2 – gekochte Fleischbällchen

Mugham3– Aserbaidschanische Nationalmusik

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