
Vielleicht, vielleicht auch nicht
Er saß da: lachend, die Arme zum Himmel gestreckt. Nahm garnicht
Notiz von ihr - zunächst nicht.
Das ist mein Weg, dachte sie. Zwar geh ich ihn immer nur halb und
nie zu Ende: aber er gehört mir!
Der lange, gerade Feldweg flimmerte in der Morgensonne. Rechts,
die Apfelbäume, jetzt, im Mai, voller rotweisser Blüten. Geradeaus
und überall darüber: blassblauer Himmel. Linkerhand die weit hin-
gestreckte Blumenwiese, durchzogen vom schmalen, gurgelnden
Bach. Da saß er. Der Mann. Lachend. Die Arme himmelwärts.
Nun bemerkte er sie. Ließ die Arme sinken, erschrak auch zunächst
etwas, aber sein Lachen blieb.
,, Schön hier, nicht wahr? "
,, Ja, schön, " antwortet sie leise, voller Zurückhaltung.
,, Setz dich doch...Mir ist, als würden wir uns schon ewig kennen, "
sagt er, das hohe Gras um sich streichelnd.
Mir nicht, denkt sie. Und: komplett meschugge, der Kerl. Nie und
nimmer setz ich mich dahin! Und wenn doch, dann nur, weil du in
der zweiten Weghälfte bist - da, wo ich noch nie war, Freundchen. Nur
deshalb! Und weil mich spleenige Typen, wie du einer bist, grundsätz-
lich irgendwie neugierig machen. Sonst sitzt hier nämlich nie einer in
der Wiese, fern von Haus und Hof.
Sie zögert lange.
Zwei, drei Minuten vergehen. Etwa. Oder nur Sekunden? Zeit -
scheint es - hat plötzlich alle Bedeutung verloren.
„Wie haben Sie meinen Weg gefunden? ´´
„ Er hat mich gefunden. Übrigens – ich heiße Tim.“
Abgefahren ist der Typ schon, aber garnicht mal unsympathisch, über-
legt sie. Gefährlich wird er schon nicht sein. Hat ja nichts Verdächtiges
bei sich: `ne Jacke, den Rucksack, obenauf ein alter Fotoapparat, Son-
nenbrille und die Baseball-Cap, daneben, im Gras liegend. Seine Jeans
sind zerrissen. Stammt wahrscheinlich vom Kleiderspende-Laden. Je-
denfalls nicht aus der Boutique.
Neben ihm liegt etwas. Sieht aus wie poliertes Holz, doch es liegt halb
versteckt unter der Decke, auf der er sitzt. Er sieht sie erwartungsvoll an,
doch sie hält sich vorsichtig zurück.
Im Innersten fühlt sie sich wohl neben ihm, ein unbekanntes Gefühl von
Vertrautheit schleicht sich ein. Wie alt mag er sein? Jugendlicher Typ mit
Gesichtsfurchen. Wenn er lacht, bleiben die Augen matt. Nur die Gräben
um seinen Mund verziehen sich.
„ Also: ich bin Danny. Wo hast du denn deine Unterkunft? Oder zeltest du
hier? “
Er lacht laut.
„ Ich?... Wohne da drüben am Bachufer. Kann mich prima waschen und
im Spätsommer pflück ich mir mein Frühstück vom Baum. Was will ich
mehr. Heißen Kaffee kann ich mir auch irgendwo holen, wenn ich will.“
Läuft er vor jemandem weg?, überlegt sie. Hat er was ausgefressen und
wird womöglich gesucht? Eigentlich sieht er nett aus. Wenn man ihm die
Haare mal in Form bringt und er sich die Stoppeln rasiert, könnte man sich
glatt in ihn verlieben. Er hat sowas Geheimnisvolles an sich.
Sie gibt sich einen Ruck.
„ Ich muss wieder los. Vielleicht seh´n wir uns ja die Tage. Falls du was
brauchst – ich wohn´ da drüben, in dem kleinen Häuschen. Das mit der grü-
nen Tür “.
Auf dem Rückweg wünscht sie sich eigentlich schon, er möge abends klop-
fen und sie um eine Tasse Tee bitten.
Nichts. Er kommt nicht. Der Mond glotzt hell und voll in ihr Schlafzimmer.
Langsam geht sie zum geöffneten Fenster und zündet sich eine Zigarette an.
Vor mehreren Jahren hat sie das Rauchen aufgegeben, aber heute holt sie
sich eine Zigarette aus der Packung, die ihre Freundin kürzlich hier verges-
sen hat.
Ein paar Tage später:
Sie hat Kuchen gebacken, Kaffee in der Thermoskanne – kommt sich vor wie
Rotkäppchen, nur ohne Rotwein und viel älter – und läuft schnellen Schrittes
den Weg entlang zur Wiese, zum Bach.
Niemand zu sehen. Sie blickt über die Gräser hinweg und hofft, ihn vielleicht
schlafend irgendwo zu entdecken - aber nichts.
Leere. Auch in ihr.
Enttäuscht tritt sie den Heimweg an. Idiot! Mich so in Unruhe zu bringen!
Was geht mich der undurchschaubare Kerl auch an! Und überhaupt: ich bin
gern allein und brauch meine Freiheiten - basta. Und trotzdem back ich statt-
dessen Kuchen und renne einem Fremden nach, über den ich rein garnichts
weiß.
Als sie sich ihrem Haus nähert, ertönen von Weitem Gitarrenklänge „ Sounds
of Silence “ . Er sitzt auf der alten Bank und seine Finger wandern geschickt
die Saiten entlang. Ein Lächeln, das sie heute sogar in den Augen sehen kann,
strahlt ihr entgegen.
Der frühlingswarme Abend bricht langsam an und sie sitzen still draußen, der
beginnenden Dämmerung zusehend.
Er atmet tief ein und aus.
„ Ich will mein Leben neu spüren. Dazu hab ich mir diesen Flecken Erde aus-
gesucht. Blumenwiesen, wie die hier draußen, konnte ich nie wirklich wahr-
nehmen und schon garnicht ihren Duft riechen. Aber jetzt fühle und atme ich
alles...tief und viel intensiver! “
Ihr läuft ein leichter Schauer über den Rücken. Jetzt bloß nicht weichspülen
lassen! Sie nimmt das Kaffeegeschirr, das noch immer da steht und stolpert
in die Küche. Was soll sie nur tun...?
Ja, sie wird ihn wegschicken. Vielleicht wird er auch von selbst gehn, oder:
er bleibt....
Er entdeckt den alten Plattenspieler auf der Holztruhe und kramt in den LPs
nach Oldies. Platters, französische Chansons und hier: Otis Redding: “Sittin´
On The Dock oft the Bay“ und Elvis: „Falling in Love“.
Er sucht weiter, legt schließlich einen Song von Leonard Cohen auf.
Sie kommt herein - lächelt.
Draußen wird es Nacht.
2.
Ehe er fort war, schlenderten sie am anderen Morgen nochmal den Feldweg
entlang. Kamen an den leise dahin plätschernden Bach. Zur weithin gestreck-
ten Wiese. Setzten sich. Sahen rauf, zum Himmel, als suchten sie dort nach
Antworten, die es nicht gab. Sie wiegte ihren Kopf an seiner Schulter. In sei-
nen Armen. Ameisen bevölkerten ihre Schuhe, alle Kleider. Auch Käfer. Sie
bemerkten es nicht.
Plötzlich zitterte er heftig. Umschloss sie fester und verschluckte einige Sil-
ben.
,, ...nicht fair, das Leben..."
Schließlich sprach er mit etwas festerer Stimme.
,, Da ist noch etwas, das ich dir sagen muß... "
Auch sie bebte; hob die eine Hand, verschloss seinen Mund.
,, Ich weiß. Du hast es mir im Schlaf erzählt...."
Minuten vergingen. Oder waren es Stunden?
Zeit ist aufgehoben. Ist verloren in rauschender Stille und Wind. Was zählt,
ist im Jetzt und Hier.
*
Irgendwann, in der folgenden Nacht, lief sie weit hinaus. Ging den Weg, den
sie sonst immer nur halb ging, bis zum Ende - mit ihm. Sah zu den Sternen
auf, vernahm ganz nah das Rascheln und Raunen blühender Apfelbäume,
fand ihren Lieblingsplatz in der feuchten Blumenwiese, lächelte tapfer,
streckte einen Arm seitwärts aus, spürte seine Hand ganz deutlich.
Er war fort....Und hier.
(c) Ingrid Bezold & Ralph Bruse
Foto: Ralph Bruse
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